Behindert sein
Ein Thema zum Nachdenken....
Was heisst eigentlich "behindert" bzw. behindert sein?
Den meisten von uns werden, so denke ich, Menschen in den Sinn kommen, die entweder im Rollstuhl sitzen oder aber eine geistige Behinderung wie Trisomie 21, auch Down Syndrom genannt, haben, um nur zwei Beispiele zu nennen. Solche Menschen haben mit Hindernissen im Leben zu kämpfen. Stellt man sich eine Person im Rollstuhl vor, kann man sich ziemlich gut vergegenwärtigen, welche Hindernisse einer betroffenen Person tagtäglich begegnen. Ein anderes weiteres Beispiel ist das Blindsein.
Unser Verstand, das Denken, funktioniert oftmals im Modus der Kategorien, Schubladen oder des Denkens in schwarz/weiss. Man ist sich dessen oft auch gar nicht bewusst. Beispiele: Diese Person ist nicht behindert (da z.B. nicht im Rollstuhl, da nicht Trisomie 21) jene Person ist behindert, diese Person ist gesund, jene krank, diese Person mag ich, jene Person mag ich nicht. Oder aber wir bezeichnen uns als normal und alle Abweichungen von diesem sich zurechtgelegten Normal als abnormal und das Abnormal als weniger Wert. Wenn man genauer hinschaut, sind dies alles Spaltungen. Diese wiederum schaffen Distanz und oftmals auch Inakzeptanz. Sie schaffen Trennung, führen oftmals zu Intoleranz, Streit und Konkurrenzkampf. Leider. Wenn man diese Dinge aber als Unterschiede anschaut und man Unterschiede als wertvoll betrachtet, was sie meines Erachtens sind, dann schaffen Unterschiede nicht Spaltung und Trennung sondern sind die hervorragende Essenz für ein erfolgreiches Miteinander, für Potenzial, Liebe und Wachstum. Denn, was wäre, wenn wir alle gleich wären und alles gleich gut könnten? Jeder wäre beispielsweise handwerklich begabt, niemand aber wäre im administrativen Bereich talentiert, wo würde das hinführen! Leider sehen das viele Leute nicht. Erkennen nicht das Potenzial der Unterschiede. Erkennen im Anderssein eines Menschen nicht das Potenzial, nicht die Schönheit, nicht die Liebe. Dementsprechend können wir sie auch nicht anerkennen und noch weniger fördern und unterstützen. Das macht mich immer wieder traurig. Und ich weiss, wovon ich spreche, denn meine kleinste Schwester hat Trisomie 21. Ich selber bin gerade auf einem anspruchsvollen Weg, langsam raus aus der Depression. Schritt für Schritt die Ängste überwinden, sich ihnen immer wieder stellen, überwinden, stellen, überwinden. Vor einiger Zeit, während einer meiner Tiefpunkte der Depression, voller Ängste, kam mir plötzlich der Gedanke, dass eigentlich nicht meine Schwester mit Trisomie 21 behindert ist, sondern ich. Denn: Meine Schwester lebt ihr Leben ungehindert, ohne Hindernisse. Ich nicht. Meine Hindernisse sind Ängste, Erschöpfung, Überforderung, Perfektionismus, Gefühle wie Minderwertigkeit, Sinnlosigkeit und Ohnmacht, um nur einige zu nennen. All das schränkt ein, lässt mich mein Leben nicht ungehindert Leben. Was ich sagen will, meine Schwester hat zwar Trisomie 21 und gilt somit in unserer Gesellschaft als "behindert". Aber ist das wirklich so?
Mit den heutzutage neusten Testmethoden, z.B. der Nackenfaltenmessung, können schwangere Frauen mögliche Fehlbildungen des ungeborenen Kindes frühzeitig erkennen. Aber wieso erforscht und konstruiert und erfindet man solche Tests? Für was dieser Aufwand? Menschen mit z.B. Trisomie 21 sind wundervolle Menschen und kein Hindernis! Sie sind nicht weniger Wert und schon gar keine "Problemhaufen", unsere Gesellschaft verhält sich aber ziemlich oft so, als ob dies so wäre.
Meine Schwester ist ein Vorbild. Man kann so viel von ihr lernen! Sie ist ein glücklicher, aufgestellter, liebenswürdiger, fröhlicher, zutiefst authentischer Mensch, sie verkörpert sozusagen alle diese Ausdrücke vollumfänglich, und nicht nur diese. Sie ist goldig und wertvoll, bereichernd, echt, sie hat Eigenschaften an sich, die einfach phänomenal sind. Übrigens, meine Schwester spricht nicht. Ist das schlimm? Lange dachte ich, und auch viele andere, dass es schade ist, dass sie nicht spricht. Ich wünschte mir oft und habe die Hoffnung bis heute, dass meine Schwester irgendwann zu reden anfängt. Aber, eine Überlegung: Die Mehrheit der Menschen kann sprechen. Trotzdem ist die Kommunikation das am häufigsten verbreitete Problem unter Menschen, in Firmen, in Beziehungen. Man spricht entweder nicht oder zu wenig miteinander, es entstehen Missverständnisse, man versteht sich nicht oder falsch usw. Was nützt uns da die Fähigkeit, sprechen zu können? Paradox ist, dass ich mich mit meiner jüngsten Schwester schon immer am besten verstanden habe, auch ohne Worte. Kommunikation ist mehr als Worte, sehr viel mehr. Und Sprachen gibt es viele. Die Sprache des Herzens, der Gesten, die Körpersprache, die Sprache der Musik, der Natur und nicht zuletzt die Sprache der Liebe. Was meine Schwester betrifft: Meine Schwester ist nicht unglücklich oder traurig, nicht sprechen zu können. Sie leidet nicht darunter. Eher wir anderen dachten, dass das doch ein Nachteil ist. Aber wissen wir das wirklich? Für mich zählt, wie es meiner Schwester geht und dass sie glücklich ist. Glücklicherweise ist sie das.
Eine weitere spannende Überlegung ist das Blindsein. Als blind gelten Menschen, welche das Augenlicht, das Sehvermögen, verloren haben oder nie hatten. Es gibt aber Menschen, die in vollem Besitze ihres Augenlichts und Sehvermögens sind, und trotzdem sind sie blind. Sie sehen z.B. sofort die Fehler und Unvollkommenheiten des Gegenübers, für die eigenen Unzulänglichkeiten aber sind sie blind. Dazu gibt es ein spannender Ausschnitt in der Bibel in Matthäus 7.3: "Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?" Blinde Menschen nehmen oft mehr wahr als wir nicht Blinden. Viele haben ausserordentliche Fähigkeiten im Zuhören. Sie hören in der Stimme des Gegenübers auch die feinen Nuancen, die Zwischentöne und können daraus Vieles "ablesen". Oder sie haben einen ausgeprägten Geruchssinn. Oder aber sie können Dinge und Sachverhalte aus unterschiedlichen, verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Und wir, wir glauben oft nur, was wir sehen, mit den Augen sehen. Welch Ironie. Da stellt sich doch einmal mehr die Frage, was sehen überhaupt bedeutet. Mit den Augen sehen, einsehen, Ansehen, mit dem Herzen sehen, erkennen, wahrnehmen…. Oder wie es in "Der kleine Prinz" von Antoine de Saint-Exupéry heisst: "Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar."
Ich denke, es wäre wertvoll, in erster Linie im Gegenüber, im Menschen, die positiven Fähigkeiten, das Potenzial zu erkennen, zu suchen und zu finden, und zu überlegen, wie wir uns gegenseitig unterstützen, bereichern, ergänzen, fördern und voneinander lernen können, uns miteinander verbinden, vereinen und nicht bekämpfen, ausgrenzen. Ob behindert oder nicht, ob krank oder gesund, sein oder nicht sein, eines verbindet uns immer: Das Menschsein.